Das Schellenhänschen

Hans ist ein fröhlicher Dorfjunge. Er interessiert sich für alles und hat die tollsten Ideen.

Eines Tages entdeckt er im Nähkasten der Mutter viele goldfarbene Kugeln in verschiedenen Größen. Neugierig nimmt er sie in die Hände und spielt damit. Plötzlich beginnen die Kugeln zu klingen. "Hans, lege die Glöckchen wieder in den Kasten zurück!" ruft seine Mutter. "Ich brauche sie an Weihnachten!"

Der Junge ist aber von dem Klang der Kugeln so begeistert, daß er nicht bis zum Weihnachtsfest warten will. Als die Mutter zu Bett gegangen ist, schleicht er heimlich zum Nähkasten. Vorsichtig nimmt er die Glöckchen heraus und bringt sie in sein Zimmer. Dort näht er sie an seinen Schlafanzug. Die kleinen befestigt er an den Enden der Ärmel, die großen kommen an die Ränder der Hosenbeine. Die ganz großen sollen am Kragen klingen, die winzigen an den Hüften. Die restlichen bindet er an seine Mütze. Er zieht sein Kostüm an und beginnt sich zu bewegen.

Er kreist mit den Armen, hebt nacheinander die Beine hoch, dreht den Kopf hin und her und lauscht. Er schüttelt die Hände, wackelt mit dem ganzen Körper und beginnt zu tanzen. "So etwas Schönes habe ich noch nie gehört. Viel lauter und noch schöner müßt ihr Glöckchen klingen." Voller Freude stampft er mit den Füßen auf den Boden, wiegt sich im Rhythmus hin und her und singt dazu. Seine Mutter wacht auf und kommt ins Zimmer. Als sie ihren Jungen so lustig tanzen sieht, muß sie herzlich lachen. "Nun aber husch ins Bett!"

Müde und glücklich schläft Hans in seinem Schellengewand ein. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen: "Morgen früh gehe ich so zur Schule." Um 7 Uhr schleicht Hans leise klingend aus dem Haus, und an der nächsten Straßenecke beginnt er zu tanzen. Verwundert schauen verschlafene Gesichter aus den Fenstern. Seine Schulkameraden amüsieren sich köstlich, als sie Hans so sehen.
Auch seine Lehrerin schmunzelt.
"Aber Hans", fragt sie, "wo hast Du denn Deinen Schulranzen?"
"Den mußte ich zu Hause lassen, weil ich keine Glöckchen mehr habe, um ihn zu schmücken."
Die Lehrerin lacht: "Es ist ja lustig, ich freue mich mit Dir, aber jetzt geh heim, zieh Dein Schellenkleid aus und bringe Deinen Ranzen mit, denn schließlich macht lernen auch Spaß. Ihr könnt Euch ja heute mittag beim Dorfbrunnen treffen."

Als Hans am Nachmittag bimmelnd zum Brunnen kommt, wird er schon von vielen Kindern erwartet.

"Schellenhänschen,
noch ein Tänzchen!"

rufen sie ihm fröhlich zu.

Hans bewegt sich und singt dabei. Es klingt wunderbar und alle freuen sich.
Jeden Nachmittag treffen sich die Kinder dort. Hans tanzt ihnen etwas vor und alle klatschen.

Doch eines Tages, als die Kinderschar zum Dorfbrunnen kommt, steht Hans wie angewurzelt da. Er schaut stumm auf den Boden.

"Schellenhänschen,
noch ein Tänzchen!"

rufen sie ihm wieder zu.

Doch so sehr ihn seine Freunde auch bitten, Hans will einfach nicht tanzen.
"Keine Lust..." sagt er trotzig. Enttäuscht gehen die Kinder nach Hause.

Seine Freundin Sophie fragt ihn am nächsten Tag: "Hans, warum willst Du denn nicht mehr tanzen? Es ist doch immer so schön und Du hast doch selbst so viel Spaß dabei gehabt!"
Doch wieder kommt die gleiche Antwort: "Ich habe keine Lust und dabei bleibt es." Dann gib mir Dein Schellenkleid" bittet sie ihn, "ich tanze Dir etwas vor."
"Es gehört aber mir, und ich gebe es nicht her."
Sophie wünscht sich aber nichts sehnlicher, als einmal darin zu tanzen.

Die Kinderschar überlegt, wie sie Hans zum Tanzen bringen kann. Sie schubsen und stupsen ihn, aber nichts geschieht. Hans regt sich nicht und sagt kein Wort.

"Jetzt haben wir die Glöckchen wieder nicht hören können" klagt Sophie. "Hans muß sich bewegen, dann klingen sie von ganz allein!"

"Hans spielst Du mit uns nachlaufen?"
"Nein, ich mag nicht."
"Und verstecken ?"
"Nein, will ich auch nicht."
Wie wär‘s mit Fußball ?"
"Nein, interessiert mich nicht."
"Oder etwas anderes ?"
"Hab zu gar nichts Lust!"
"Mensch Hans", sorgt sich Peter, "was ist denn mit Dir los ? Bist Du krank?"
"Nein, hab nur keine Lust."
"Sollen wir eine Fahrradtour machen?" Doch auch dazu ist Hans nicht zu überreden.
Enttäuscht steigen die Kinder auf ihre Räder und fahren weg. Einer ruft noch: "Schmollenhänschen, Schmollenhänschen!"

Ein trauriger Hans steht einsam am Dorfbrunnen. "Schmollenhänschen hat er mich genannt, und der will ein Freund sein."

Unterwegs hält Sophie an: "Mir tut’s einfach leid, daß Hans nicht mehr tanzt. Sicher hat er einen Grund und den möchte ich wissen. Ich kehre um."
"Aber Hans ist doch selbst schuld, er hat uns doch im Stich gelassen!"
"Hmm, aber trotzdem, er ist doch unser Freund, ich fahre zurück zu ihm."

Als Sophie zum Dorfbrunnen kommt, steht Hans immer noch alleine da. Er lächelt, als er seine Freundin sieht. "Warum bist Du zurückgekommen?" fragt er schüchtern.

"Hans, mir ist es zu heiß zum Radfahren, ich möchte lieber schwimmen gehen." antwortete Sophie verlegen.

"Kommst Du mit ?"
Erleichtert nickt Hans. "Ich muß noch schnell meine Schwimmsachen holen."
Dann laufen die beiden ins Bad, lösen zwei Eintrittskarten, ziehen sich um und legen ihre Sachen auf die Bank. Mit einem Kopfsprung taucht Hans ins Wasserbecken. Sophie steigt die Stufen zur Rutschbahn hoch. "Da blinkt doch etwas in der Sonne?" Wie gebannt bleibt sie oben auf der Rutsche sitzen. "Das sind die Glöckchen an dem Schellenkleid. Wie gerne würde ich es einmal anziehen."

Hinter ihr drängeln die Kinder: "Angsthase, Angsthase, Du traust Dich nicht zu rutschen."
Rumms, - ein Stoß in den Rücken, und schon rast Sophie die Rutsche hinunter und platscht ins Wasser. Sie läuft schnell zur Bank, bevor Hans aus dem Wasser steigt. Sie nimmt das Schellenkostüm und verschwindet.

Als Hans frierend aus dem Wasser kommt und sich anziehen will, stellt er mit Entsetzen fest, daß sein Glöckchenoverall nicht mehr bei seinen Sachen liegt. Auch Sophie ist verschwunden. Traurig geht er nach Hause. Seine Mutter spürt sofort, daß mit ihrem Jungen etwas nicht stimmt. "Hans, Du bist so betrübt, fehlt Dir etwas ?"
"Mutti", schluchzt Hans, "mein Schellenkleid ist nicht mehr da, jemand hat es mir gestohlen!"
Die Mutter nimmt ihn in die Arme: "Sei nicht so traurig, mein Junge. Du wolltest doch sowieso nicht mehr tanzen." Da fängt der Bub laut an zu weinen. "Ach, jetzt merke ich erst, wie sehr Du an Deinem Kostüm hängst. Weißt Du was ? Wir nähen einfach ein neues mit vielen verschiedenen Glöckchen, vielleicht klingt es noch schöner als das alte."

Am nächsten Tag ist das neue Kleid fertig. "Gefällt es Dir?" fragt ihn seine Mutter.
"Es ist noch schöner, als das alte. Aber trotzdem möchte ich es nicht anziehen und darin tanzen."
Die Mutter streichelt ihn liebevoll und sagt:"Hans, ich glaube, Du bist nur ein bißchen bockig!"

Der Junge grinst. Dann schlüpft er in sein neues Schellenkleid und läuft zum Dorfbrunnen. Unterwegs hört er Glöckchen klingen. Als er näher kommt, sieht er Sophie in seinem alten Schellenkleid tanzen. "Die kann das doch gar nicht – die Glöckchen klingen nicht richtig! Das hört sich ja scheußlich an." Als Sophie ihn entdeckt, bekommt sie einen roten Kopf und schämt sich. "Ich gebe Dir Dein Kleid sofort zurück," murmelt sie verlegen.
Doch Hans lacht sie an: "Behalte es ruhig, denn ich habe ein neues." Die Kinder sind neugierig. "Hans, tanzt Du wieder?"
"Morgen, morgen", ruft er, "kommt alle morgen wieder her!" Er nimmt Sophie bei der Hand. "Komm, wir beide üben jetzt einen neuen Tanz; den zeigen wir dann gemeinsam den anderen."
Glücklich erzählt Sophie ihrer Mutter davon und bittet sie, sich den Tanz anzuschauen.

Am nächsten Tag geht Sophie mit ihrer Mutter zum Dorfbrunnen. "Es sind noch mehr Kinder gekommen, als sonst", sagt Hans. Alle warten gespannt. Es ist mucksmäuschenstill, als die beiden mit ihrem Auftritt beginnen. Sie wiegen sich im Rhythmus und das herrliche Schellengeläut bringt die Kinder so in Stimmung, daß sie begeistert mitspringen und hüpfen. Sogar Sophie’s Mutter tanzt mit.

Dann flüstert sie Hans leise ins Ohr: "Siehst Du, es ist ganz normal, manchmal keine Lust zu haben. Den Erwachsenen geht das nicht viel anders. Man muß nur warten können, bis die Lust von alleine wieder kommt."